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6. Dezember 2020Ein Extremsportler entdeckt seine innere Welt im Gebirge
Ein Mann, dessen Geschichte beeindruckt, bewegt, berührt. Er ist Extremsportler, erkundet seine innere Welt beim Trailrunning. Und blickt durch einen Schicksalsschlag völlig anders auf das Leben.
Thomas R.* ist schon durch das Himalaya-Gebirge gelaufen. Er hat Etappenrennen in den Bergen Indiens absolviert. 100 Meilen in fünf Tagen. Beim Transalpine Run hat er in acht Tagen rund 273 Kilometer und dabei 15.000 Höhenmeter überwunden. Das Event ist die Tour de France unter den Gebirgsläufen, weil einer der härtesten und spektakulärsten der Welt. Thomas ist im echten Leben Zahnarzt. Er praktiziert in einem ehemaligen Stall auf einem Bauernhof im tiefsten Bayern. Laufen ist seine Passion – und gleichzeitig ein Ausgleich für eine bewegende Lebensgeschichte.
Mich faszinieren Menschen, ihre Leidenschaften, was sie antreibt, wie sie denken. Deshalb wollte ich mit Thomas sprechen. Ein Freund hatte mir von seiner bemerkenswerten und gleichzeitig ergreifenden Geschichte berichtet. Ich möchte erfahren, was der Extremsport mit ihm macht. Wie ein Mensch tickt, der immer wieder seine körperlichen Grenzen verschiebt – als Hobbyathlet, der mit seinem Sport kein Geld verdient, sondern dafür zahlen muss. Ob sich sein Blick auf die Welt verändert. Und welche Einstellung ihm hilft, die größte Herausforderung seines Lebens zu meistern.
Humpelnd durch die Rocky Mountains
Anruf in Bayern an einem Donnerstagabend um 21 Uhr. Thomas meldet sich mit Hamburger Akzent. Ein Nordlicht im Süden. Wir wollen über die Einstellung zum Leben reden. Über Mindset und die innere Stimme. Wann ist sie Freund, wann ist sie Feind? Zweieinhalb Stunden plaudern wir – über weit mehr als das. Und hören nur auf, weil es nach 23 Uhr ist. Thomas erzählt, wie seine Faszination für das Trailrunning begann. Am Anfang war es der Marathon, der ihn elektrisierte. Hamburg, New York, Washington. Er wollte immer mehr, immer schneller werden. 2011 trainierte er mit einem Personal Coach, um in der US-Hauptstadt seine Zeit von vor zehn Jahren zu unterbieten.
Worauf richtet sich die Aufmerksamkeit?
Irgendwann empfand er die 42,195 Kilometer als eintönig. Sein erster Transalpine Run 2011 entfachte seine Leidenschaft fürs Gebirge. „Der Lauf hat Kultcharakter in der Szene“, sagt er. „Die Belastungswechsel sind intensiver. Es geht bergauf, bergab. Mit jedem Tag zwickt es mehr. Je länger das Rennen dauert, desto mehr humpelt das Feld.“ Er sagt: „Man horcht in sich hinein. Manchmal hypochondrisch. Es geht dann darum, die Aufmerksamkeit nicht auf die Schmerzen zu lenken.“ In den Jahren danach läuft und humpelt er durch die Rocky Mountains in Colorado und Kanada. 2020 sollte es Nepal werden, das berühmte Mustang Trail Race. Corona machte den Plan zunichte. Neuer Anlauf 2021? Fraglich.
Die Aufmerksamkeit nicht auf die Schmerzen lenken. Ein Satz, der bei mir hängen bleibt, weil er sich bestens auf das Leben übertragen lässt. Worauf achte ich in meinem Alltag? Richte ich meinen Blick auf das Wunderbare, das jederzeit vorhanden ist? Auf das Funktionierende? Oder konzentriert sich mein Geist auf das, was fehlt? Es fehlt immer etwas.
Ein Extremsportler erkundet seine innere Welt
Thomas spricht weiter. „Viele Menschen langweilen sich in ihrem Leben. Deshalb machen sie solche verrückten Sachen wie Trailrunning. In den Bergen lässt man den Alltag hinter sich, der Fokus verändert sich. Man spürt sich selbst, lernt sich in extremen Situationen neu kennen. Gleichzeitig spornt einen die Gruppe an. Wenn sich alle gemeinsam durchkämpfen, entsteht etwas Großes.“ Um Platzierungen gehe es ihm schon längst nicht mehr. „Je älter ich werde, desto dankbarer bin ich, noch dabei sein zu können.“ Wenn Thomas erzählt, dass er sich vor der vierten, fünften Etappe im Himalaya „alles abschmiert, was wund werden könnte“ und dass er sich „freut, wenn das Ziel näher rückt“, gleichzeitig aber „wie in einem Rausch laufe, im absoluten Flow, in dem sich die Beine irgendwann wie von allein bewegen“, dann schwingt ein Selbstverständnis in seinen Worten mit, als seien diese Qualen so alltäglich wie eine Joggingrunde um die Hamburger Außenalster. „Bei einem Staatsexamen wird auch geschwitzt“ sagt Thomas. Und: „Jeder kenianische Bauernjunge würde so viel laufen wie wir, nur um zur Schule gehen zu können.“
Mich interessiert, wie sich das Denken verändert, wenn man immer wieder seine körperliche und mentale Leistungsgrenze sprengt und daneben andere schwierige Herausforderungen zu bewältigen hat. Welche Rolle spielt der Kritiker im Kopf? Wann nimmt er ihn wahr? Nimmt er ihn überhaupt wahr?
„Optimist bis zum Beweis des Gegenteils“
„Beim Transalpine Run das Ziel zu erreichen, macht mein Selbstvertrauen für das Leben nicht kleiner“, sagt Thomas nüchtern. Früher sei er Fallschirm gesprungen. Viererformation. Er habe Trainingslager in Florida abgehalten. Der absolute Kick. Adrenalin pur. „Irgendwann glaubst du, das ist dein einziger Daseinszweck. Du fühlst dich wie der König der Welt.“ So wie Leonardo DiCaprio in der berühmten Titanic-Szene, als er mit seiner Angebeteten am Bug des Schiffes in die Ferne blickt und die Arme wie Flügel ausbreitet. „Wohlwollend kann man es als ausgelassene Lebensfreude bezeichnen, kritisch als hypomane Affektiertheit“, sagt er. Natürlich kenne er die Stimme im Kopf. Für ihn sei sie mehr hilfreich als schädlich. „Ich setze mir ein Ziel – und dieses Ziel will ich erreichen. Unbedingt. Ich lasse mich davon nicht abbringen.“ Dann spricht er diesen Satz: „Bis zum Beweis des Gegenteils kenne ich nur den Optimismus.“
Ein Satz wie ein Ass. Eine Einstellung wie ein Schlüssel zu Glück und Erfolg. Es ist der Moment, in dem ich Thomas auf seine private Lebenssituation ansprechen müsste. Ich fühle Unbehagen dabei und denke: Zum Glück bist du nie im Boulevard gelandet, dort würdest du einen lausigen Journalisten abgeben. Er beginnt von allein zu erzählen.
Ein Schicksalsschlag, der alles ändert
Thomas ist verheiratet. Seine Frau ist seit fast 30 Jahren schwerbehindert. Sie sitzt im Rollstuhl. Eine zentralakustische Wahrnehmungsstörung macht sie nahezu bewegungsunfähig. Sie hört, kann das Gehörte aber nur teilweise im Gehirn verarbeiten. Manches liest sie von den Lippen ab. Ein wenig sprechen kann sie, nur bleibt vieles davon auch für Geübte unverständlich. Es sind die schlimmen Folgen eines Autounfalls im Dezember 1992, drei Monate nach der Hochzeit. Eine Kollision mit einem Baum. Schädelhirntrauma, monatelanges Wachkoma. Ein Schicksalsschlag aus dem Nichts, ohne Fremdbeteiligung. Thomas sagt: „Der Schaden, den meine Frau erlitten hat, ist so groß, dass ich mit der Schuldfrage nie etwas anfangen konnte. Sie spielt für die Situation keine Rolle.“
Raum für Reflexionen
„Am Ende geht es immer um die Anpassung im Leben“
Er pflegt seine Frau bis heute. Deshalb die Zahnarztpraxis in einem alten Stall – auf einem ehemaligen Bauernhof, auf dem das Paar lebt. Es ist der ursprüngliche Familiensitz Thomas’ Schwiegermutter. Seinen Alltag beschreibt er als „sehr arbeitsreich“. Thomas spricht sachlich, pointiert, druckreif, ohne Drama oder Melancholie. Nach dem Unfall, der auch für ihn alles veränderte, reiste er mit seiner Frau nach Südafrika und ging mit ihr auf Safari. Es war ihr Traum. Heute nimmt er sie regelmäßig mit ins Theater, in die Oper, ins Restaurant. Wenn nicht gerade wegen Corona alles dicht ist. „Am Ende geht es immer um die Anpassung im Leben“, sagt er. Und fügt an: „Ich habe gelernt: Wenn dir etwas wichtig ist, wenn es erreichbar ist, wenn es dich mit Sinn erfüllt, dann musst du es machen. Kontostände können sich ändern. Aber das, was du erlebst, kann dir keiner mehr nehmen.“
So oft gehört, so oft gelesen, so oft selbst gesprochen. Doch seine Worte hallen länger nach. Ich überlege, wie ich in der Lage wäre, seine Herausforderung zu bewältigen und finde natürlich keine Antwort. Für seine Einstellung zum Leben, für seine Klarheit, für seine Offenheit bewundere ich ihn. Ich möchte wissen, ob es den Moment gab, in dem er überlegt habe, einfach wegzulaufen, seine Frau zu verlassen und ein neues unbeschwertes Leben zu beginnen. Finde die Frage irgendwie pietätlos, stelle sie aber trotzdem.
„Erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche“
Eine Lebenskrise 2010. Thomas spricht auch offen über diese Phase. „Keine richtige Familie, niemals Kinder. Damals ist mir klargeworden, dass ich es auch anders hätte haben können. Aber es war meine bewusste Entscheidung.“ Wieder einer seiner Vergleiche: „Wenn du im November anfängst, Vögel zu füttern, kannst du nicht im Januar aufhören.“ Thomas sagt, er habe gelernt, was wahre Akzeptanz bedeutet. Das Leben zu nehmen, wie es ist. Nicht kontrollieren zu wollen, was nicht kontrollierbar ist. Das anzupacken, was sich anpacken lässt. Nicht zu hadern. Man glaubt es ihm sofort. „Das Leben kann erfüllt sein, trotz unerfüllter Wünsche.“ Er klingt zufrieden.
Wille und Leidenschaft als Schlüssel
Im Wettkampf tankt Thomas auf. Schaltet ab. Zwingt sich zu körperlichen Höchstleistungen. Befriedigt seinen Bewegungsdrang. Begegnet sich dabei selbst. Eine Sucht? „Es gibt Süchtige. Ich bin es nicht“, sagt er. Und: „Wann beginnt die Sucht? Wer Quartalstrinker ist und nicht ohne einen Quartalssuff kann, ist auch süchtig.“ Seine Motivation sei das Wohlgefühl nach einem Lauf. „Es ist etwas Anderes, ob ich nach einer durchzechten Nacht dusche oder nach einer harten Etappe.“ Er vergleicht den Sport mit dem Leben. „Es geht darum, seine Grenzen immer wieder zu verschieben. Der Schlüssel dafür liegt im Willen und in der Leidenschaft. Vieles ist nicht planbar. Was einem bleibt, ist das Entwickeln einer passenden Haltung zu jeder Situation, die nicht änderbar ist. Und die Ressourcen zu nutzen, die vorhanden sind.“
Mehr Dankbarkeit und Vertrauen
Als wir aufgelegt haben verspreche ich mir, öfter an dieses Gespräch mit Thomas zu denken. Noch mehr Dankbarkeit für mein unbeschwertes Leben zu empfinden. Weniger kritisch mit mir selbst zu sein. Noch stärker auf mein Herz zu hören, meiner Intuition zu lauschen. Häufiger Risiken einzugehen und dabei dem Lebensfluss zu vertrauen. Neue Träume zu erforschen und sie mir zu erfüllen. Weniger an gestern und an morgen zu denken. Stattdessen im Moment zu verweilen. Öfter grundlos Glück zu spüren. Glück, das an Gründe gebunden ist, ist ohnehin kein wahres Glück. Im Alltag häufiger kurze Pausen einzulegen. Innezuhalten. Und zu realisieren, wie wundervoll das Leben ist.
Sechs Monate sind seit unserem Telefonat vergangen. Ich denke noch häufig an die zweieinhalb Stunden mit Thomas, habe viel von ihm erfahren. Von einem Mann, der trotz eines bewegenden Schicksals das Leben liebt. Der keine Plattitüden aus Ratgebern zitieren muss, um zu verdeutlichen, dass er ein zufriedener Mensch ist. Sondern der authentisch und imponierend freizügig über sein Leben spricht und damit die größte Wirkung erzielt.
*Name geändert. Der Protagonist hatte sich dazu bereiterklärt, auch unter Verwendung seines echten Namens einer Veröffentlichung der Story zuzustimmen. „Mir persönlich wäre es ohne aber auch ganz recht.“ Kein Problem, vielen Dank für das Gespräch!
2 Comments
Wow! Ein toller Mensch und eine wirklich schöne Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Danke!!
Danke! 🙂
Ja, hat mich auch dankbar und demütig gemacht…