Der Schauspieler und Regisseur Woody Allen ist neben vielen erfolgreichen Filmen auch für eine Reihe markiger Zitate bekannt. „Ich habe keine Angst vor dem Sterben“, sagte er einmal, „ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.“ Wahrscheinlich hat er deshalb auch einst darüber philosophiert, wie es wäre, das nächste Leben rückwärts zu leben. Heißt also: Es beginnt mit dem Tod. Also damit, wovor sich fast alle am meisten fürchten. Somit liegt die größte Angst (blenden wir die Absurdität dieses Widerspruchs in sich einfach mal aus) mit Beginn des Lebens schon mal hinter einem. Nach seinem Tod erwacht man in einer Seniorenresidenz. Mit jedem Tag fühlt man sich ein bisschen gesünder und vitaler. Nach ein paar Jahren ist man fit genug, um den Alltag allein zu meistern. Man zieht in ein Haus, kassiert eine Rente, spielt Golf und bereist die Welt.
Wieder einige Jahre später ist man bereit für die Arbeitswelt. Der erste Tag im Büro beginnt mit einer riesigen Party und einer goldenen Uhr, die einem der Chef feierlich überreicht. 40 Jahre verbringt man in unterschiedlichen Positionen und mit wechselnden Aufgaben, bis man jung genug ist für die wildeste Zeit des Lebens: Man besucht eine Universität, feiert jede Woche rauschende Partys, erreicht seinen körperlichen Zenit und wechselt ständig den Partner. Ein Leben in totaler Freiheit. Es folgen Gymnasium und Grundschule, man entwickelt sich zu einem Kind, das es liebt, zu spielen und dessen wesentliche Werte nun Lebensfreude und Liebe sind. Mit jedem Tag trägt man weniger Verantwortung, buddelt im Sandkasten und denkt immer seltener an die Zukunft oder die Vergangenheit. Aus dem Kleinkind wird ein Säugling und es folgen neun letzte und fantastische Monate – schwimmend in einem wohltemperierten Wellness-Appartment mit exzellentem Zimmerservice. Und dann ist es soweit, das Finale grande: Das Leben endet als Orgasmus!
Was ist es, das einen über diese verrückte Vorstellung schmunzelnd nachdenken lässt? Vermutlich mehr als nur der Gedanke, den Tod mit dem Beginn des Lebens abgehakt zu haben. Ist es nicht vor allem die Sehnsucht nach mehr Leichtigkeit und Sorglosigkeit beim Blick in eine ungewisse Zukunft? Die Hoffnung, die beste Zeit möge noch vor einem liegen? Der Wunsch nach weniger Verpflichtung und mehr kindlicher Unbeschwertheit, frei von Egos, Eitelkeiten, Ängsten und Unsicherheiten? Die Suche nach Geborgenheit und das Verlangen nach Sicherheit und Vertrauen? Die Furcht davor, all dies könnte einem auf der eigenen Reise irgendwann abhandenkommen?
Woody Allens Phantasie hat mich wieder einmal daran erinnert, was das Wichtigste sein könnte für ein erfülltes und glückliches Leben, denn wer weiß es schon so ganz genau? Jede Lebensphase mit ganzem Herzen auszukosten – immer mit der festen Überzeugung, die beste Zeit genau in diesem Moment erleben zu dürfen. Weder sorgenvoll nach vorn zu blicken, noch wehmütig zurück. Das Glück im Augenblick zu erkennen und es nicht als einen Zustand der völligen Abwesenheit des Unglücks zu verstehen. Bei der ersten Tasse Kaffee nicht schon an die zweite zu denken, und bei der Vorspeise nicht ans Dessert. Seine Ziele zwar im Visier zu haben, aber auf dem Weg dorthin jeden einzelnen Schlenker zu genießen. Werte zu definieren, die einem Orientierung bieten können wie ein Kompass im dichten Nebel.
Die Gewissheit zu spüren, nicht erst jemand werden zu müssen, sondern der sein zu dürfen, der man ist – unabhängig vom Alter, Beruf und Erfolg. Sich niemals zu jung zu fühlen, um seinen verrücktesten Träumen nachzujagen, aber auch niemals zu alt, um noch einmal neu zu beginnen. Aufzustehen, wenn man gefallen ist, weil das Liegenbleiben keine Alternative sein darf. Weniger Probleme und mehr Chancen am Wegesrand zu erkennen, und mit beiden Händen mutig nach ihnen zu greifen. Nicht mit seinem Schicksal zu hadern, keine unnötigen Streitgespräche mit der Welt zu führen, stattdessen nach dem Prinzip der Selbstverantwortung zu leben. Sich immer wieder seines unerschöpflichen Potenzials bewusstzuwerden, das so viel größer ist, als man häufig glaubt.
Den eigenen natürlichen Fähigkeiten zu vertrauen, nicht aber jenen Menschen, die einem Grenzen auferlegen und Zweifel einreden wollen. Keine schwermütige Suche nach einem übergeordneten und allgemeingültigen Sinn des Lebens zu betreiben, sondern sich dem Gedanken hinzugeben, dass jeder Mensch eingeladen ist, seinem Leben einen individuellen Sinn zu verleihen, Kurswechsel jederzeit möglich. Wahlfreiheit ist das Zauberwort, dessen Bedeutung zu verinnerlichen kraftvoll und aufrüttelnd sein kann.
Mit meinen 36 Jahren habe nicht allzu viel Ahnung vom Leben. Erstrecht nicht davon, was es bedeutet, wirklich alt zu werden und unausweichlich auf die Zielgrade einzubiegen. Gerade deshalb liebe ich die Weisheit älterer Menschen. Ihre Erfahrungen und ihre Sicht auf die Welt machen mich demütig und dankbar. In stürmischen Zeiten können sie Optimismus und Zuversicht versprühen. Hoffnung, die sich so schnell ausbreitet wie ein Sonnenstrahl. Ein alter Weggefährte von mir, der mir früher voller Liebe und Leidenschaft eine Menge über das Leben erklärt hat und den ich mir heute noch oft als Gesprächspartner zurückwünsche, sagte einmal: „Mein Junge, alles, was du in deinem Leben machst, bietet dir die Chance, Neues zu lernen. Jeder einzelne Moment. Du weißt nie, wann dir diese Erfahrung einmal nützlich sein wird.“ Ich denke oft an diese Worte. Sie sind so wahr.
Tim Gallwey, 83, dessen Methode „The Inner Game“ mich schon lange fasziniert und die ich inzwischen selbst weitergeben darf, nennt das Leben „eine kostenlose Fortbildung im Menschsein“, die sich als besonders lehrreich erweise, wenn man sich von Erwartungen löst und sich der eigenen Neugier hingibt – in jedem Alter. Was für eine wunderbare Vorstellung. Ich glaube, sie gefällt mir besser als das Modell von Woody Allen.