Die Endlichkeit des Lebens – Fluch oder Segen?
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Selbstliebe hat bei vielen noch immer ein mieses Image. Dabei belegen Forschungen, dass sie die Lösung sein kann für so viele Herausforderungen des Lebens.
Als ich vor einigen Tagen durch den Wald stapfte und mich am knirschenden Schnee unter meinen ausgelatschten Winterstiefeln erfreute, begegnete ich zwei älteren Damen. Sie marschierten ein paar Meter vor mir und unterhielten sich so laut und angeregt, wie es in einer herrlichen Winterstille meines Erachtens nach nicht gestattet sein sollte. In vorpandemischen Zeiten hätte ich mich rechts vorbeigeschoben und wäre meiner Wege gegangen. Doch um den Corona konformen Sicherheitsabstand zu wahren, musste ich nun für einen Moment mein Tempo drosseln, ehe ich zum Überholvorgang ansetzen konnte. So lauschte ich gezwungenermaßen, wie die eine der anderen predigte: „Uschi, Dunkelheit kann niemals die Dunkelheit vertreiben, das kann nur das Licht. Und Hass wird niemals den Hass vertreiben, das kann nur die Liebe. Daran sollten wir häufiger denken! Wer hat das noch gleich gesagt? Fällt mir gerade nicht ein, aber der Spruch ist wunderbar, oder nicht?“
Ein liebendes Leben als zentrale Aufgabe?
Während Uschi zustimmte und laut überlegte, ob es Goethe gewesen sei, der diese Weisheit einst gesprochen hatte, erkannte ich links eine Lücke, die groß genug war, um an beiden vorbeizuhuschen. Später fand ich übrigens heraus, dass es Martin Luther King war, von dem die Worte stammten.
Ich hatte also wieder freie Bahn und als außer den beruhigenden Geräuschen der Natur nur noch wenig Anderes zu hören war, dachte ich eine Weile über den Satz nach, den die Begleiterin von Uschi vorgetragen hatte. Schließlich landete ich bei der Frage, ob zu lernen, wie man ein liebendes Leben führen kann, vielleicht die eine Aufgabe ist, die uns Menschen alle miteinander verbindet? Und daran anknüpfend: Wenn man die Liebe als das zentrale Lebensthema festlegt, ob dann nicht die Selbstliebe für uns alle eine viel größere Rolle spielen sollte?
Nur eine Beziehung währt ein Leben lang – die zu sich selbst
Wir verbringen im Laufe unseres Lebens mit keinem anderen Menschen mehr Zeit als mit uns selbst. Was wir als unterschiedlich angenehm wahrnehmen. Die einen erschaffen sich bewusst Zeitinseln für Reflexionen, um die verschiedenen Facetten ihres Seins zu erforschen. Die anderen wehren sich mit Händen und Klauen dagegen und bewegen sich am Rande der Unerträglichkeit, wenn sie sich auf ihre eigene Gesellschaft beschränken müssen. Viele flüchten sich dann in Dauerberieselungen, um sich vor der inneren Einkehr und dem, was sie zutage bringen könnte, zu schützen. Eines scheint dabei manchmal in Vergessenheit zu geraten: Es gibt nur eine einzige Beziehung im Leben, die wirklich von der Geburt bis zum Tod währt: Und das ist die zu sich selbst. Verdient diese Beziehung nicht eine stärkere Priorität? Marvin Gaye sagte einmal: „Wenn du in dir keinen Frieden findest, wirst du ihn auch nirgendwo anders finden.“ Getreu der Erkenntnis: Was du dir selbst nicht imstande bist zu geben, das erwarte nicht von einem anderen zu erhalten.
Das fragwürdige Image der Selbstliebe
Trotzdem hat die Selbstliebe zuweilen noch immer ein fragwürdiges Image. Microsoft Word etwa liefert vielsagende Vorschläge bei der Suche nach Synonymen: Egoismus, Eitelkeit, Eigensucht, Ichsucht, Selbstsucht, Egozentrik, Eigenliebe, Ichbezogenheit und Narzissmus. Noch Fragen? Besonders weit verbreitet zu sein scheint die Assoziation mit Egoismus und dem damit verknüpften Gedanken, das Wohl der anderen müsste stets dem eigenen vorgezogen werden.
Forschungen über das Selbstmitgefühl
Die amerikanische Forscherin Kristin Neff, Professorin für Psychologie an der Universität in Austin, Texas, fand heraus, dass 70 Prozent der Menschen anderen mehr Mitgefühl schenken als sich selbst. Es wundert mich, dass der Wert nicht noch höher ist. Viele von uns haben ein Leben lang gelernt, an ihren fantastischen Stärken zu zweifeln und sich stattdessen für ihre Schwächen zu schämen. Sie haben sich daran gewöhnt, sich für ihr Scheitern zu verurteilen und für Fehler zu prügeln. Manche verzweifeln an ihrem Körper, vergleichen ihn mit zweifelhaften Schönheitsidealen – und vergessen dabei: Der Körper ist ein einmaliges Erfahrungsinstrument für das Leben. Sollte man ihm deshalb nicht mit tiefer Dankbarkeit für seine Funktionsfähigkeit begegnen, anstatt ihn brutal anzufeinden?
Objektive Selbstkritik – ein wichtiges Werkzeug der Reflexion
Häufig erwarten wir Dinge von uns, die wir niemandem zumuten würden, den wir wirklich lieben. In Momenten, in denen wir unseren besten Freund oder unsere beste Freundin mit einer ermutigenden Perspektive versuchen würden aufzurichten, gehen wir beim Dichten selbstzerstörerischer Gedanken immer wieder mit einer erstaunlichen Kreativität zu Werke. Auf der Suche nach dem kleinsten Patzer sezieren wir die eigenen Leistungen. Dieses Phänomen nennen wir Selbstkritik, die wir als Stärke verkaufen, weil wir in der Arbeitswelt gelernt haben, sie sei eine wichtige Tugend. Damit keine Missverständnisse entstehen: Das eigene Handeln kritisch zu beäugen, kann eine wertvolle Form der Reflexion sein – jedoch nur mit Objektivität und Sachlichkeit.
Selbstliebe – nur etwas für Weicheier?
„Selbstliebe ist kein Thema, das mich interessiert“, sagte neulich ein Bekannter, als ich ihm berichtete, dass ich einen Onlinekurs dazu entwickelt habe. „Für mich ist das eine Weichei-Nummer. Damit beschäftigen sich diejenigen, die mit den Herausforderungen des Lebens nicht zurechtkommen. Erfolgreich wirst du nun mal dann, wenn du Druck aushältst, wenn du hart zu dir selbst bist, dich immer weiter antreibst. Ich weiß nicht, ob zu viel Selbstliebe dem zuträglich ist.“
Disziplin & Ehrgeiz schließen Mitgefühl & Fürsorge nicht aus
Natürlich hat er recht, wenn er meint, dass Disziplin und Ehrgeiz wichtige Eigenschaften sein können, um in einer Sache – in welcher auch immer – richtig gut zu werden. Allerdings: Sich hohe Ziele zu setzen, Herausforderungen anzunehmen und sich in schwierigen Phasen durchzubeißen, schließen einen respektvollen, wertschätzenden und mitfühlenden Umgang mit sich selbst keineswegs aus. Nur: Wie zielführend sind Druck und Härte, wenn auf der Langstrecke die Liebe fehlt? Wenn Freude und Leidenschaft verloren gehen, weil man bloß einem Ergebnis nach dem anderen hinterherjagt? Immer höher, schneller, weiter. Wie hilfreich ist es im Sinne eines glücklichen Lebens, sich immerzu mit Strenge anzutreiben? Sich stets mit den Besten zu vergleichen und – Achtung, die Kombination ist entscheidend! – sich zu erniedrigen, wenn man in den eigenen Augen neben ihnen nicht bestehen kann?
Selbstliebe und Schwäche – ein schlechter Vergleich
Ein anderer Kumpel erzählte mir kürzlich von einer Arbeitskollegin, einer im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichneten Reporterin, überhäuft mit Journalistenpreisen. Sie habe ihm anvertraut, dass sie trotz des großen Beifalls, den sie regelmäßig für ihre Reportagen erhält, noch immer an ihren eigenen Schreibfähigkeiten zweifle, was nicht selten zur Verzweiflung führe. Meistens dann, wenn sie Geschichten anderer liest, die sie für pointierter, wortgewaltiger oder blumiger formuliert hält. Oft sind es die erfolgreichsten Menschen, die sich mit absurden Vergleichen und unerbittlichen Beurteilungen des eigenen Selbst am meisten kasteien.
Weitere Blogbeiträge
Noch einmal zurück zu meinem Bekannten, der von der „Weichei-Nummer“ sprach: Der Vergleich von Selbstliebe und Schwäche ist ähnlich absurd, wie in Russland von einer Demokratie zu sprechen. Es gibt inzwischen wissenschaftliche Studien, die belegen: Menschen, die gelernt haben, sich selbst fürsorglich, mitfühlend und respektvoll zu behandeln, verfügen über eine größere Resilienz, über mehr Widerstandsfähigkeit. Sie meistern schwierige Situationen besser als andere, stehen stabiler im Leben und geraten seltener ins Wanken. Und: Es ist ebenfalls erwiesen, dass diese Menschen auch anderen kompromissbereiter entgegentreten, Konflikte schneller lösen.
Freude und Lernen im Fokus
Auf den letzten Metern meines Mittags-Spaziergangs – Uschi und ihre belesene Gefährtin hatte ich vermutlich schon weit hinter mir gelassen – überlegte ich: Wie würden sich physisches und psychisches Wohlbefinden, unsere Arbeitswelt und unser Zusammenleben als Gesellschaft verändern, wenn jeder Mensch einen warmherzigen und liebevollen Umgang mit sich selbst pflegen würde? Wenn Anerkennung und Respekt nicht mehr geknüpft würden an Erfolge oder andere äußere Umstände? Wenn die Leistung nicht das alles dominierende Kriterium wäre, an dem wir uns messen würden, sondern neben der Performance die Freude und das Lernen im Fokus stünden?
Wie würde die Welt aussehen, wenn mehr Menschen – auch in ihrer Beziehung zu sich selbst! – öfter an die Worte Martin Luther Kings denken würden? „Dunkelheit kann niemals die Dunkelheit vertreiben, das kann nur das Licht. Und Hass wird niemals den Hass vertreiben, das kann nur die Liebe.“
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