Die besten Leistungen gelingen uns meistens, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment richten. Wenn wir vollkommen präsent sind bei dem, was wir tun und mit den Gedanken weder in die Zukunft schweifen noch über die Vergangenheit grübeln. Der Zustand nennt sich Konzentration – und er lässt sich sogar beim Wandern trainieren.
Ich habe diese Erfahrung vor einigen Tagen im Harz gemacht. Wir starteten zu viert auf eine 24 Kilometer lange Tour – einmal rauf auf den Brocken und wieder hinunter. Als wir bereits zweieinhalb Stunden durch überwiegend unebenes Gelände marschiert waren, lagen noch 2,5 Kilometer bis zum Gipfel vor uns. Ein extrem steiler Anstieg – bei Regen und im dichten Nebel. Jeder Schritt brannte in den Oberschenkeln. In den ersten Minuten dieser Quälerei bemerkte ich, wie ich innerlich rebellierte. Mein Rücken tat weh und mit der Muskulatur meiner Beine hatte ich seit einigen Tagen zu kämpfen.
Um meine Gedanken zur Ruhe zu bringen, fokussierte ich mich auf meine Atmung. Einatmen durch die Nase, ausatmen durch den Mund. Ich beobachtete, wie lang meine Atemzüge waren, ob ich länger ein- oder ausatmete und wo ich den Atmen in meinem Körper spüren konnte. Dabei entwickelte sich wie von selbst ein gleichmäßiger Schritt. Mit jedem zurückgelegten Meter kehrte nicht nur das Vertrauen in meinen Körper zurück, sondern auch die Freude über diese großartige Herausforderung. Phasenweise stiefelten wir minutenlang schweigend nebeneinander den steilen Pflasterweg nach oben – und je länger ich mich auf meine Atmung konzentrierte, desto weniger dachte ich darüber nach, wie weit der Weg zum Ziel noch sein würde. Zu sehen war es ohnehin nicht, durch die trübe Sicht tauchte der Gipfel irgendwann ganz plötzlich vor uns auf.
Am Ende benötigten wir für diese letzten 2,5 Kilometer unserer Wanderung etwa 90 Minuten. Nach vier Stunden waren wir also oben angekommen. Als wir auch den Abstieg gemeistert hatten und abends wieder in unserer Behausung gelandet waren, da lagen fast acht Stunden in der Natur hinter uns. Was geblieben war? Ein Gefühl der Glückseligkeit, Stolz auf die eigene Widerstandsfähigkeit und sogar ein gewisser Wehmut darüber, wie schnell am Ende sogar diese vielen Stunden verfolgen waren.
Warum ich die Geschichte erzähle? Weil ich finde, dass sie das Leben wunderbar widerspiegelt. Wie oft stehen wir vor einer Herausforderung, die uns unerreichbar erscheint und uns deshalb zweifeln lässt, ob wir wir stark genug sind, um sie zu bewältigen? Wenn wir nicht aufpassen und unsere Gedanken bewusst in eine andere, zielführendere Richtung lenken, hören wir unseren Zweifeln zu. Irgendwann schenken ihnen Glauben und kommen zum Schluss: Das schaffst du nie! In der Folge geben wir entweder viel zu früh auf (meistens, weil wir uns selbst vor einer Enttäuschung schützen wollen) oder wir beißen uns zwar mit großer Mühe und Anstrengung durch, empfinden aber auf dem Weg zum Ziel keinerlei Freude. Kommt dir das bekannt vor?
Die Wanderung auf den Brocken war für mich eine Bestätigung dafür, wie sehr es sich sogar in den alltäglichsten Situationen lohnt, die Konzentration immer wieder zurück auf das Hier und Jetzt zu zentrieren – weg von äußeren und inneren Störungen und stattdessen hin zu einem Fokus, der mich zum einen interessiert und mir zum anderen innere Ruhe schenkt. Und: Ich habe wieder einmal erfahren, dass es nur meine Entscheidung ist, welchen Gedanken ich in schwierigen Momenten Beachtung schenke und welchen nicht. Auf halber Strecke zum Brockengipfel hatte ich kurzzeitig Zweifel daran, es nach oben und vor allem auch wieder nach unten zu schaffen, weil die Schmerzen in meinem linken Bein zunächst immer unangenehmer wurden. Durch die Fokussierung auf das Atmen konnte ich mich aus meinem Gedankenkreislauf befreien – und am Ende des Tages, als mir meine Uhr 35.000 absolvierte Schritte und mehr als 300 bezwungene Stockwerke attestierte, spürte ich nicht viel mehr als einen normalen Muskelkater.
In The Inner Game of Tennis heißt es: “Gewinnen bedeutet das Überwinden von Hindernissen, um ein Ziel zu erreichen, aber der mit dem Gewinnen verbundene Wert ist nur so groß wie der Wert des erreichten Ziels. Das Erreichen des Ziels selbst ist vielleicht nicht so wertvoll wie die Erfahrung, die sich aus einer herausragenden Anstrengung zur Überwindung der Hindernisse ergibt. Der Prozess kann lohnender sein als der Sieg selbst.” Das gilt für eine Wanderung auf den Brocken, für ein Tennismatch und für jede andere Herausforderung des Lebens.
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