Über den Umgang mit der Stimme im Kopf
31. Oktober 2020Träume erforschen: 180 Stunden grenzenlos denken!
17. November 2020Achtsamkeit und Selbstfürsorge – alles andere als esoterisches Gedöns!
Wie ich Achtsamkeit in meinem Alltag praktiziere und so meine Wahrnehmung schärfe. Wie mich Selbstfürsorge vor Perfektionismus schützt. Und warum beides nichts mit Hokuspokus zu tun hat.
Ein morgendlicher Gang durch den Park. Ein Dutzend unterschiedlicher Farbtöne schimmert in der Herbstsonne. Einatmen. Wahrnehmen. Ausatmen. Ein Labrador wälzt sich, von Glückseligkeit berauscht, zwischen Entenkot und Laub im feuchten Gras. Kaum Menschen. Ein Jogger, der zum Labrador gehört. Eine Mutter mit Kinderwagen. Ein paar Graugänse beim Frühstück. Sonst nichts. Innehalten. Einatmen. Wahrnehmen. Ausatmen. Ein Presslufthammer in der Ferne. Die Stille um den Hammer herum wahrnehmen. Gar nicht so einfach. Funktioniert aber, zumindest für ein paar Sekunden. Einatmen. Wahrnehmen. Ausatmen. Einfach gehen, einen Fuß vor den anderen setzen. Den Boden darunter spüren. Wie fühlt er sich an? Auf einer Skala von eins bis zehn – wie weich oder hart ist er? Wie setze ich meine Füße auf den Boden? Wo im Körper spüre ich mein Gewicht beim Laufen? Einatmen. Wahrnehmen. Ausatmen.
Momente der Ruhe – frei von Ablenkungen
Eine kleine Einheit in Achtsamkeit versuche ich täglich in meinen Alltag zu integrieren. Nur ein paar Minuten. Nicht immer ist es ein Spaziergang am Morgen. Manchmal konzentriere ich mich auf den Geschmack des ersten Kaffees nach dem Aufstehen. Ich versuche ihn dann so intensiv wahrzunehmen, dass ich einem Alien beschreiben könnte, wie er schmeckt. Manchmal achte ich auf das Messer, das durch die Zucchini gleitet, auf die Tonlage eines singenden Vogels, auf das Eichhörnchen, das vor meinem Fenster akribisch seiner Arbeit nachgeht. Das bewusste Wahrnehmen schärft meine Fokussierung auf das Hier und Jetzt. Es beschäftigt Charly, so nenne ich die sonst pausenlos aktive Stimme im Kopf. Lässt Momente der Ruhe entstehen, frei von Ablenkungen. Für kurze Zeit bin ich nicht mehr meinem Verstand ausgeliefert, nicht mehr die Marionette meines zappeligen Geistes. Wenn die Aufmerksamkeit abschweift, wird Charly wieder aktiv.
Raum für Reflexionen
„Machste einen auf Eso-Guru?”
Als ich vor gut zwei Wochen meinen ersten Blog – die Arschbombe in den Fluss des Lebens – veröffentlichte, erhielt ich enormen Applaus. Ich bekam Anrufe und Nachrichten von Menschen, von denen ich teilweise jahrelang nichts gehört hatte, einige kenne ich kaum. Sie wollten mich wissen lassen, dass meine Gedanken bei ihnen einen Nerv getroffen hätten. Ein Feedback, so wohltuend wie ein heißes Schaumbad im kühlen Herbst.
Einige Tage später ploppte eine Nachricht mit anderem Tenor auf. „Machst du jetzt auch einen auf esoterischen Guru?”, fragte mich jemand aus der Tennisszene, den ich nie persönlich getroffen habe. „Sorry, nicht böse gemeint, aber ich kann’s nicht mehr hören. Jeder Zweite faselt was von Achtsamkeit und Selbstliebe und will einem erklären, wie man durch das Leben tanzt.“ In dieser Deutlichkeit eine Einzelmeinung in meinem Postfach, allerdings flankiert von ein paar wenigen weiteren, die zumindest Skepsis suggerierten. Nach dem Motto: „Dieser ganze Psycho-Kram ist bisher komplett an mir vorbeigegangen – aber vielleicht ändert sich das jetzt durch deinen Blog.“
Lebensqualität als neuer Leitwert
Achtsamkeit und Selbstfürsorge – der Light-Begriff der Selbstliebe, für all diejenigen, denen es sonst zu gefühlsduselig wird – sind zwei wesentliche Säulen für ein bewussteres Leben. In unserer von Perfektionismus und Optimierungswahn geprägten Leistungsgesellschaft sind sie jedoch längst noch nicht überall etabliert. Obwohl die Anzahl der Menschen, die andere Fragen an das Leben stellen, um andere Antworten zu erhalten, gefühlt mit jedem Tag zu wachsen scheint. Lebensqualität ist die neue Sicherheit und entwickelt sich insbesondere bei jüngeren Menschen zu einem Leitwert. Die Fragen „Wer bin ich? Warum bin ich, wie ich bin? Und was ist meine Aufgabe hier?“ treibt längst nicht mehr nur eine kleine Gruppe Sinnsuchender um.
Achtsamkeit und Selbstfürsorge – kein Hokuspokus
Vipassana-Retreats (zehn Tage schweigen im Kloster!) waren vor dem neuen Lockdown deutschlandweit auf Monate ausgebucht. Meditationskurse boomen. Junge Männer üben den Sonnengruß. Wer als moderne Führungskraft etwas auf sich hält, bildet sich in „Mindful Leadership“ weiter. Sicher ist eines: Der Vergleich von Achtsamkeit und Selbstfürsorge mit esoterischem Gedöns ist so veraltet wie der lange Donnerstag. Erstrecht, weil die Wissenschaft rasant forscht und immer neue und fundierte Erkenntnisse liefert – beispielsweise über die positiven Auswirkungen von Achtsamkeitstraining auf die Leistung des Gehirns.
Das Leben als Schnellzug – ohne Reset-Knopf
Achtsamkeit bedeutet für mich auch, die Kostbarkeit der Zeit zu erkennen. Mich öfter daran zu erinnern, dass die einzelnen Tage, die summiert als Wochen, Monate und Jahre wie ein Schnellzug an mir vorbeizurasen scheinen, das Leben sind. Keine Probe. Kein Warm-up. Kein Videospiel mit Reset-Knopf. Stattdessen jeder Tag ein neues Wunder. Jeder Tag eine Chance, Wünsche und Träume zu erforschen – und sie zu verwirklichen. Das Leben voller Wonne und Dankbarkeit auszukosten, statt es bloß schwermütig zu bewältigen, abzubrennen wie eine Wunderkerze. Bevor ich einen auf beleidigte Leberwurst mache, innezuhalten und mich zu fragen: Wie wichtig ist das Thema wirklich? Wie werde ich in einem Jahr über das denken, was mich heute wütend macht? Hilft mir der Helikopterblick, um meinen Ärger als einen klitzekleinen Teil eines ereignisreichen Lebens zu betrachten?
Die Kraft der Achtsamkeit und Selbstfürsorge
Ich habe gelernt, dass es sich mit der Praxis von Achtsamkeit ähnlich verhält wie mit dem Sport – am Anfang kosten die Übungen Überwindung, mit der Zeit werden sie unverzichtbar. Mit dem Entdecken der Kraft von Selbstfürsorge ist es ähnlich. Ein Coach aus meinem Umfeld fragte mich kürzlich beim Plaudern: „Wer sind die fünf wichtigsten Personen in deinem Leben?“, und ergänzte die Pointe direkt: „Kaum einer kommt auf die Idee, seinen eigenen Namen auf diese Liste zu schreiben.“ Wer sich selbst priorisiert, wird als Egoist gestempelt. Dabei funktioniert die Gleichung nach einem anderen Gesetz: Nur wer hat, kann geben. Wer seine eigenen Akkus auflädt, kann andere mit Energie versorgen. Wer sich im Flieger bei einem Notfall die Atemmaske zuerst selbst auf Mund und Nase drückt, ist danach noch imstande, Kindern und Mitreisenden zu helfen.
Selbstwertschätzung ist keine Arroganz
Selbstfürsorge bedeutet auch Selbstwertschätzung. Bin ich mir meiner Fähigkeiten bewusst? Lobe ich mich selbst für das, was ich vollbringe? Erlaube ich es mir, stolz zu sein auf das, was mich als Menschen ausmacht? Die meisten von uns tragen unter ihrer Frisur den fest verwurzelten Glaubenssatz, Bescheidenheit sei die wesentliche Tugend im Leben und bedinge, die eigenen Erfolge nicht zu sehr zu gewichten. Der entscheidende Gradmesser sei das Urteil der anderen. Ein weit verbreitetes Problem, das fast alle Menschen eint. Nur: Anderen gefallen zu wollen, hat miserable Aussichten auf Erfolg. Selbstwertschätzung hingegen sorgt dafür, dass neben einer emotionalen Resilienz auch ein tiefes Selbstvertrauen wachsen kann – und damit eine Unabhängigkeit vom Schulterklopfen anderer Menschen. Es ist die Basis dafür, andere wirklich wirksam unterstützen zu können. Arroganz und Überheblichkeit haben mit Selbstfürsorge und Selbstwertschätzung so wenig zu tun wie Trumps Gehabe mit einer Demokratie.
Wie würde ich einem Freund begegnen?
Wir behandeln uns selbst oft mit einer schockierenden Strenge. Getrieben vom inneren Kritiker Charly, der Disziplin und Härte als Grundwerte predigt, mit Zuspruch und Anerkennung hingegen knausrig ist. Hilfreich wäre es, sich regelmäßig zu überlegen: Wie würde ich einem Freund oder einer Freundin in einer Situation begegnen, in der ich mich wieder einmal mit Selbstverurteilung drangsaliere? Welche Worte und welchen Tonfall würde ich wählen? Wie spreche ich hingegen mit mir selbst? Was mute ich mir zu, was ich von einem anderen Menschen, den ich liebe, niemals wagen würde zu erwarten? Und: Warum ist das so?
Experimentieren mit dem Leben
Achtsamkeit und Selbstfürsorge können Hand in Hand gehen – und einen dazu animieren, sich mit den Kernfragen des eigenen Daseins auseinanderzusetzen. Anfangs mag das ungewohnt sein und vielleicht ein wenig unangenehm, weil man nicht immer auf Anhieb auf das Erwartete oder Erhoffte stößt. Mit der Zeit allerdings wird der Raum für das Experimentieren mit dem Leben größer. Ein Raum, in dem Perfektionismus immer weniger Platz einnimmt. In dem man die Schweinwerfer auf die eigene Persönlichkeit richtet und neugierig seine innere Welt entdeckt – mit Mut, Offenheit und einer Prise Humor. Dafür braucht es weder Hokuspokus noch den Glauben an Geister oder Übersinnliches.
3 Comments
Da isser wieder , unser Charly 🙂
Er war nie weg! 🙂
[…] Potenzial entfalten können. Was es dafür braucht? Den Mut, zu Fehlern und Schwächen zu stehen. Mitgefühl für andere und sich selbst zu kultivieren. Und das Vertrauen in die Stimme des Herzens zu finden, das immer weiß, was richtig […]